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Vom Nettsein zum Nein: Wie du die Leistungs-Falle als Fawn-Response erkennst

Klebrig, schwer, beengend. So fühlte es sich an, als ich vor einiger Zeit während einer Supervision aufgefordert wurde, zu meinem verwirrenden Gefühl entstanden aus Prüfungsstress und Beziehungs-Irritationen in meinen Brustraum zu spüren. Und was ich da wahrnahm, war keine Angst, keine Mauer, kein Schmerz. Sondern eine klebrige, schwere braune Masse über meinem Herzen – wie ein Schutz der mich umhüllte. Der mein Herz davor schützte, sich in Gefahrensituationen roh, ehrlich und verletzlich - ja vielleicht auch verletzend - zu zeigen. Ein cleveres Schutzmuster, erschaffen, um durch herausfordernde Werte- oder Autoritäts-Konflikte hindurch zu kommen.


Wie unser Gehirn durch Anpassung lernt

Von klein auf lernt unser soziales Nervensystem, wem wir trauen dürfen – und wem besser nicht. In jedem Beziehungssystem entwickeln wir Muster, wie wir uns verhalten müssen, um Zugehörigkeit, Sicherheit oder Aufmerksamkeit zu sichern. Das kann bedeuten:

  • still sein, wenn wir eigentlich laut wären

  • nicken, obwohl wir innerlich „Nein“ fühlen

  • Leistung bringen, um geliebt zu werden

  • Konflikten ausweichen, um nicht verlassen zu werden


Diese Anpassungsstrategien haben evolutionär betrachtet unser Überleben gesichert. Soziales Lernen und Kooperationsfähigkeit sind der Grund, weshalb wir Menschen ein so hochkomplexes Gehirn entwickeln konnten. Doch die entscheidende Frage lautet: Kann ich bewusst wählen, wann mein Anpassungsmechanismus anspringt – oder ist er mein soziales Schutzmuster chronisch überaktiviert?


Authentizität braucht Sicherheit

Lange habe ich nach einem Begriff gesucht für dieses zähe, freundliche, anpassungsfähige Etwas, das sich wie eine klebrige Masse über mein Herz legt – nicht nur in mir, sondern auch bei anderen. Ich sehe sie bei meinen Klient:innen – beeindruckende, leistungsbereite Frauen und Männer, die im Aussen brillieren. Die für andere da sind, Verantwortung übernehmen, mitdenken, mittragen. Aber sich selbst zu wenig schützen. Sie sagen Ja, obwohl ihr Inneres längst Nein ruft. Sie bleiben freundlich, obwohl sie innerlich wütend oder verletzt sind. Und sie verlieren sich – in Systemen, die nicht zu ihren Werten passen. Was fehlt, ist eine innere Sicherheit.


Ich dachte lange: Vielleicht ist es einfach ein innerer Konflikt zwischen den Grundbedürfnissen „Zugehörigkeit“ und „Autonomie“. Und ja – das ist ein wichtiger Teil. Aber wie nenne ich diesen Zustand, wenn man die eigenen Bedürfnisse verleugnet, um aus einem inneren Überlebensdrang heraus Anerkennung für Leistung zu bekommen? Wenn der Selbstwert leidet und man sich manchmal selbst über sein eigenes Verhalten wundert?


Dann, während meiner Diplomarbeit zur körperzentrierten psychologischer Beraterin am Institut für körperzentrierte Psychotherapie (IKP), bin ich auf den Begriff gestossen, der alles zusammenfasst: Überanpassung. Und nun ist daraus über verschiedene Fachgespräche und Weiterbildungen klar geworden: Diese Überanpassung ist nicht einfach ein Schutzmuster das ich selbst erfunden habe. Sie ist eine tief verankerte Überlebensstrategie, die als Trauma-Reaktion einen eigenen Namen bekommen hat: FAWN (Links und Lese-Empfehlungen dazu siehe am Ende der Seite).


Die Fawn-Response – das übersehene Schutzmuster

Viele kennen die drei klassischen Reaktionen auf bedrohlichen Stress, wie sie auch in der Tierwelt beobachtbar sind: Fight, Flight und Freeze. Also entweder kämpfen wir, flüchten aus der Situation oder gehen in eine Starre. Doch es gibt eine vierte – oft übersehene – Reaktion, die sehr komplex ist. Und vor einigen Jahren vom amerikanischen Therapeuten Pete Walker beschrieben wurde. Die sogenannte Fawn Response – oder wie die Trauma-Therapeutin Dami Charf sie nennt: der Bambi-Reflex. Der Versuch, Sicherheit durch Anpassung, Unterwerfung und Harmonie herzustellen.

“Fawn types seek safety by merging with the wishes, needs and demands of others. They act as if they unconsciously believe that the price of admission to any relationship is the forfeiture of all their needs, rights, preferences and boundaries.”(Pete Walker)

Sinngemäss übersetzt bedeutet dies: Menschen im Fawn-Modus suchen Sicherheit, indem sie sich den Erwartungen, Bedürfnissen und Stimmungen anderer anpassen – als ob sie unbewusst glauben, dass sie für jede Art von Beziehung ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse opfern müssen.


Es ist ein früh gelernter Reflex, um Beziehung und Überleben zu sichern. Das soziale Nervensystem reagiert dann beispielsweise wie folgt:

  • Meine Gesichtsmuskeln gehen automatisch in eine freundliche Mimik, obwohl ich innerlich einen enormen Stress erlebe.

  • Ich verliere mich in Verpflichtungen und Fürsorge, obwohl ich eigentlich selbst Zuwendung bräuchte.

  • Ich versuche übermässig zu leisten, um Zugehörigkeit und Überleben zu sichern – sei es emotional, sozial oder materiell. Obwohl ich eigentlich im Erreichten entspannen könnte.


Diese Reaktionen entstehen nicht zwingend durch schwere Traumata oder offensichtliche Übergriffe. Oft reicht ein soziales System – in der Familie, in der Schule, später im Arbeitsleben – in dem es nicht sicher war, als Grenzen zu setzen und für die eigenen Bedürfnisse einzustehen, damit diese Strategie der etwas überzogenen Anpassung als erfolgversprechend gelernt wurde. Menschen mit einem stark ausgeprägten Fawn-Muster sind jedoch oft in dysfunktionalen Familiensystemen aufgewachsen, in denen Nähe möglicherweise als bedrohlich erlebt wurde. Und irgendwie entsteht dann die Überzeugung, nicht zu genügen.

Sei pflegeleicht, leistungsbereit und unabhängig, dann bist du sicher."

So könnte ein Glaubenssatz lauten. Vielleicht war ein Elternteil psychisch instabil, aufbrausend oder emotional abwesend. Oder hat übermässig Nähe zum Kind gesucht und so Grenzen verletzt. Die Trauma-Therapeutin Verena König erklärt in ihren Podcasts sehr gut, wie komplex die Fawn-Response ist und in welchen Situationen sich diese Anpassungsleistung im späteren Leben zeigen kann. Und so entsteht diese flexible, funktionale, leistungsfähige Version von uns – die in stressigen Situationen übernimmt. Und sich vielleicht auch einfach mal aus dem Kontakt zieht. Nicht, weil wir es bewusst wählen. Sondern weil unser System glaubt, dass es nicht anders geht.


Fwan ist auch Rückzug - wenn das Nervensystem erschöpft ist

Für viele Menschen - und gerade für feinfühlige, leistungsstarke Frauen und Männer - hat Fawn zwei Seiten. Eine sozial erwünschte Seite, die als Stärke gesehen wird und eine einsame, erschöpfte Seite:

  • Die sichtbare Fawn-Reaktion ist die, in der alles nach aussen so harmonisch wirkt: freundlich, mitdenkend, hilfsbereit, lächelnd – selbst dann, wenn es innen drückt. Man stimmt zu, obwohl der Körper innerlich auf Alarm steht. Man beruhigt, vermittelt, hält zusammen – auch wenn man selbst eigentlich Halt bräuchte. Diese Kompetenz kann die Person zur beliebten Kollegin machen, die Konflikte löst, ausgleichend ist und vermittelt.

  • Die weniger sichtbare Seite ist diejenige, die selten benannt wird, aber unglaublich wichtig ist: der soziale Rückzug. Der Moment, in dem der Körper nicht mehr „nett sein“ kann, weil das System überlastet ist. Dieses „Ich kann gerade keinen Menschen sehen. Ich brauche Abstand." Das System sagt dann, ich muss mich von allem lösen, um wieder zu spüren, wer ich bin. Das ist kein Freeze, kein klassisches Burnout und auch kein Desinteresse. Es ist eine erschöpfte Form von Fawn – wenn das System nicht mehr genug Energie hat, um die Anpassung aufrechtzuerhalten.


Fawn-Response ist kein Charakterfehler, sondern eine tiefsitzende Antwort auf Unsicherheit – vor allem im Kontakt mit anderen Menschen. Eine Ressource, die dich sozial sehr erfolgreich machen kann. Mich hat sie bis in eine obere Kaderposition gebracht. Also sei stolz auf deinen Weg, deine äusserst komplexen und intelligenten Strategie, welche dir als Kompetenzen ermöglichen Ziele zu erreichen, die andere nicht erreichen können. Ein Schutzmuster ist immer auch eine Kompetenz. Höre dir dazu gerne auch den unten verlinkten Podcast von Verena König an.


Deine drei Schlüsselkompetenzen für den Weg zurück zu dir

Man kann mit einer Fawn-Response erstaunlich weit kommen im Leben. Man wirkt kompetent, loyal, verantwortungsvoll. Oft sogar erfolgreich. Aber tief innen bleibt etwas auf der Strecke: der nährende Kontakt – zu anderen und zu sich selbst.


Wenn du spürst, dass du zwar funktionierst, aber innerlich müde wirst…

Wenn du merkst, dass Nähe dich eher anstrengt als nährt…

Wenn du dich nach einem Leben sehnst, das dich von innen her erfüllt 

–dann darfst du anfangen, neu hinzuschauen.

Nicht gegen dich, sondern für dich.


Und lernen, echten Kontakt zu erfahren. Deinem inneren Kind das geben, was du als Kind gebraucht hättest. Und dir selbst zeigen, dass du dich selbst so annimmst, wie du bist. Du bist willkommen und wertvoll, ohne etwas dafür tun zu müssen. Wenn du dir ehrlich eingestehst, das die heutige Arbeit oder Beziehung einengend und erschöpfend ist, weil du dich (übermässig) resp. bis zur Erschöpfung anpasst, dann wirst du handlungsfähig. Investiere in ein sicheres inneres System. In ein sicheres Körpergefässes für dein Selbst, damit du mit innerer Erfüllung die Welt im Aussen verändern kannst. Dazu brauchst du einen neuen Muskel. Und dieser Muskel heisst: Selbstverbindung.


Mit der Selbstverbindung, beginnst du, Schritt für Schritt, die klebrige Schutzhülle abzustreifen – und wieder bei dir selbst anzukommen. Dir helfen dabei folgende drei Schlüsselkompetenzen:


  1. Selbstakzeptanz: Deine Reaktionen – auch die überangepassten – sind kein Fehler, sondern ein Schutz. Lerne, sie liebevoll wahrzunehmen, ohne dich dafür zu verurteilen. Nur was angenommen wird, kann sich wandeln.

  2. Selbstbehauptung: Finde deine Sprache wieder. Sag Nein, wenn du Nein fühlst. Sag Ja, wenn du Ja meinst. Nicht laut. Nicht trotzig. Sondern klar. Verkörpert. In deiner Wahrheit verankert.

  3. Selbstfürsorge: Dein Körper ist der erste Ort, an dem du lernst, dich zu regulieren. Achte auf deine Signale. Spüre deine Grenzen. Erlaube dir, dich zu nähren – nicht aus Leistung, sondern aus Liebe.


Das ist kein Weg über Nacht. Aber es ist ein Weg, der möglich ist. Und er beginnt in dir. Wenn du magst, begleite ich dich dabei. So wie Markus.




Markus’ Geschichte: Wenn der Macher plötzlich SEIN möchte

In unserem Live-Online-Coaching vom 14. November 2025 ging es genau um dieses Thema. Mein Klient, Kollege und Coaching-Partner Markus Mühlbacher, Bodyworker und Pionier, sprach offen darüber, was nach einer tiefgreifenden Weiterbildung in Holland passierte: Statt Euphorie – Nichts. Keine Energie. Kein Drive. Keine Lust auf Kontakt. Sein bisher sehr geschätzter und gepflegter Archetyp „Macher“ in ihm war plötzlich ausser Gefecht und stellte sein Identitäts-Gefühl in Frage.


In der Ruhe des Rückzugs wurde ihm langsam klar: Ein Teil seiner bisherigen Motivation war People Pleasing gewesen – ein innerer Antreiber, der gerade dabei war, sich aufzulösen.

„Ich war es gewohnt, durchzuziehen. Dinge zu tun, die andere nicht wagten. Aber plötzlich war da Leere. Und Rückzug. Und ein Teil von mir wusste: Das ist kein Rückschritt – das ist der Anfang von etwas Ehrlichem.“

Gemeinsam haben wir in der Session erarbeitet, was es heisst, wenn das Nervensystem sich zurückzieht – nicht aus Ablehnung, sondern aus Schutz. Und wie man lernt, nicht zurückzufallen in die Tarnung und Leistung, sondern zu bleiben – in der Echtheit, in der Langsamkeit, in der Präsenz, in Selbstfürsorge. Die Session mit ihm war eine sehr kraftvolle und ehrliche Stunde, die wunderschöne Resonanz bei den Zuschauern auslöste. Eine Stunde ohne Perfektion und Masken. Aber mit einer klaren Einladung, neue Wege zu gehen. Denn echte Nähe beginnt dort, wo ich mich nicht mehr anpassen muss, sondern willkommen bin – genau so, wie ich bin.


Das war ein Anker, den Markus fühlen konnte. Und vielleicht ist dieser Satz auch für dich gerade ein Anker? Wenn du spüren möchtest, wie ein Stück dieser Veränderung klingt – jenseits von Erfolgsversprechen und schnellen Lösungen – dann melde dich gerne. Ich kann dir die Aufzeichnung der Coaching-Session senden.


Ich hoffe, dieser Artikel konnte dir zeigen, dass hinter einem netten JA, das eigentlich NEIN meint, oft ein altes Schutzmuster steckt – und dass es möglich ist, daraus auszusteigen. Wenn du dich darin wieder erkennst, darfst du wissen: Du bist nicht falsch. Du bist geprägt. Und Prägungen können sich wandeln. Diese klebrige Masse der Überanpassung lässt sich nicht einfach mit Willenskraft abschütteln. Sie braucht neue Erfahrungen. Sie kann schmelzen – in der Wärme echter Verbindung, durch deine Präsenz, durch Sicherheit. Und genau das wünsche ich dir: Räume, in denen du dich nicht anpassen musst. Sondern sein darfst. Echt. Roh. Und frei.


In Verbundenheit,

Oriana



Links und weiterführende Informationen


Möchtest du Markus Mühlbacher, den traumasensiblen und reflektierten Bodyworker oder mich Oriana Chiandusso, psychologischer Coach und Beraterin aus Bern kennen lernen?


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